Fernwirkung in der TCM - Placebo oder Anatomie
- Matthias Hirsch
- 27. Juni
- 2 Min. Lesezeit
In der Akupressur und Akupunktur ist die Vorstellung von Fernwirkungen zentral: Bestimmte Punkte am Körper beeinflussen Regionen, die weit entfernt liegen. Ein klassisches Beispiel ist der Punkt Blase 60 (Kunlun), gelegen zwischen Außenknöchel und Achillessehne. Traditionell wird er eingesetzt bei Beschwerden im unteren Rücken, Nacken oder Kopf – Körperareale, die auf den ersten Blick kaum mit dem Sprunggelenk in Verbindung stehen.
Doch wie lässt sich diese Fernwirkung erklären?

Faszien: Das vernetzte Gewebe unserer Bewegungen
Die moderne Forschung liefert hier spannende Antworten. Faszien – das Bindegewebe, das Muskeln und Strukturen umhüllt und verbindet – sind längst nicht mehr nur „Verpackungsmaterial“, sondern ein aktives Netzwerk für Kraftübertragung, Bewegungskoordination und sogar Schmerzmodulation¹.
Der amerikanische Anatom Thomas Myers beschrieb in seinem Werk Anatomy Trains die sogenannte „Superficial Back Line“ – eine durchgehende myofasziale Verbindung, die von der Fußsohle über die Waden, Oberschenkelrückseite, das Becken und den Rücken bis zum Kopf zieht².

Blase 60 liegt genau auf dieser Linie. Wird er stimuliert – etwa durch Akupressur, Akupunktur oder Schröpfen – kann dies Spannungen entlang der gesamten hinteren Körperkette beeinflussen.
Faszien sind wie ein dreidimensionales Netz, das den gesamten Körper durchzieht und alle Strukturen miteinander verbindet Thomas Myers, Anatom und Faszienforscher
Wissenschaftliche Hinweise auf eine Fernwirkung
Studien zeigen, dass sich mechanische Spannungsänderungen in einem Bereich der Faszienlinie auf andere Abschnitte übertragen können. So konnte etwa nachgewiesen werden, dass Dehnungen am Bein muskuläre und fasziale Reaktionen im Nackenbereich auslösen³. Auch die Arbeit von Helene Langevin, einer Forscherin an der Harvard Medical School, zeigt, dass Akupunktur auf das Bindegewebe wirkt und dort mechanische Signale entlang faszialer Strukturen weitergeleitet werden⁴.
Diese Erkenntnisse bieten eine faszienbasierte Erklärung für viele traditionelle Wirkprinzipien der TCM – ohne sie zu entwerten. Im Gegenteil: Die Anatomie gibt den alten Systemen neue Relevanz.
Fazit: Wo TCM und Anatomie sich begegnen
Die Wirkung von Akupressurpunkten wie Blase 60 lässt sich somit nicht nur energetisch, sondern auch biomechanisch über fasziale Strukturen nachvollziehen. Damit entsteht ein integrativer Ansatz, der die klassische Chinesische Medizin mit den Erkenntnissen moderner Körpertherapie vereint – im Sinne einer ganzheitlichen Behandlung entlang funktioneller Linien.
Für TherapeutInnen ergibt sich daraus ein wertvoller Zugang: Nicht entweder – sondern sowohl Meridian als auch Faszie. Nicht mystisch – sondern vernetzt.
Quellen:
Schleip, R. et al. (2012). Fascia – The Tensional Network of the Human Body. Elsevier.
Myers, T. (2014). Anatomy Trains: Myofascial Meridians for Manual and Movement Therapists. Elsevier.
Wilke, J. et al. (2016). What is evidence-based about myofascial chains: a systematic review. Archives of Physical Medicine and Rehabilitation.
Langevin, H. M. et al. (2002). Mechanical signaling through connective tissue: a mechanism for the therapeutic effect of acupuncture. The FASEB Journal.
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